Schilder machen Leute

Dr. med. Meyer ist - eigentlich - ein bescheidener Mensch. Nicht irgendwie auffällig oder süchtig danach. Solch Name prägt eben. Ich arbeite mit meinen Studenten in derselben Klinik wie Dr. Meyer und bestätige seine Bescheidenheit. Umso mehr wunderte sich Dr. Meyer, als er auf dem Rückweg vom Kongress für Reisemedizin in den Flughafen Frankfurt kam, um von dort nachhause zu kommen. Über Hamburg nach Lüneburg. Denn er merkte, dass er auffiel, der bescheidene Dr. Meyer. Das ging los, als Dr. Meyer mit seinem Koffer an die Röntgenanlage trat und den Koffer samt Mantel abgab. Nein, nicht dass sein Gepäck auffiel. Er fiel auf. Denn die beiden Lufthansa-Mitarbeiter grüßten ihn anders als auf allen Flügen bisher. Mit einem kleinen Diener der eine, mit deutlicher Verlegenheit der andere. Auch der Dritte, der nach dem Türchen mit dem Piep für die Leibesvisitation, verabschiedete ihn auffällig. Auch Götter werden hier untersucht!", sagte er Mann zu ihm, dem unauffälligen Dr. Meyer. Und ironischer Unterton schwang mit. Drei Meter weiter die junge Dame am Check-In-Schalter verwirrte Dr. Meyer geradezu. Denn sie - errötete, als Dr. Meyer vor ihr Land. Jawohl errötete und - was noch verwirrender war - sie stand ganz kurz auf und setzte sich hastig wieder. Ein Hauch von angedeutetem Knicks. Den Wunsch nach einem guten Flug wiederholte sie zweimal. Wem aus der Promi-Welt sah er eigentlich je ähnlich? Grübelte Dr. Meyer. Sein Chefarzt sah wenigstens Peter Struck ähnlich und hatte es durchaus gut damit. Im Gegensatz zu Dr. Meyers Schwager, der Ähnlichkeiten mit Strucks Vorgänger, dem Scharping, und damit Probleme hatte Aber er, Meyer, sah doch niemandem ähnlich. Außer sich selbst. Dr. Meyer hatte noch Zeit und trank unten, was man oben nicht kriegt: Hühnerbrühe. Der Ober fragte nach dem ersten Brötchen, ob er noch eines bringen dürfte? Und dies bei einem rappelvollen Bistro. Dr. Meyer grübelte. Lag es daran, dass er zum ersten Mal im Leben ,,Business" flog, nicht Economy? Die Lufthansa war schließlich Veranstalter des Reisemedizin-Kongresses und er war - schließlich - als Referent eingeladen (Flugangst). Nein, dies wusste nur die Dame am Check-in. Beim Eintritt in den Rumpf des Fliegers war Dr. Meyer gespannt. Eher etwas verspannt. Und richtig: Die Stewardess unterbrach ihre standardisierte freundliche Begrüßung und begann zwei Mal, als sie ihn sah: „Gu - gu - guten Abend!" Dabei saugte sich ihr Blick schließlich dort fest, wo Dr. Meyer den Grund für die Sonderbehandlungen entdeckte: Das Plastikschild vom Kongress mit seinem Namen. Und über seinem unauffälligen Namen, nehmen wir den „Dr." mal aus, prangte das Logo der Lufthansa und wies ihn als Angehörigen aus. Als mögliches Mitglied des Leitungskaders. Als einer der Götter, die bekanntlich über den Wolken sind. Und mit Göttern sollte man sich gut stellen. Selbst wenn man - wie unsere Vorfahren - nicht präzise weiß, mit welchem Gott man es zu tun hat. Schilder machen die Leute von heute. Keine Kleider.

18. November 2003